Ausgehend vom Workshop „Literarisches Lesen – Literarisches Schreiben (Vergleich von Grimms ›Dornröschen‹ mit dem türkischen Pendant ›Der Rosenbey‹)“ im September 2014 während der Summer »Schreib« School an der LMU München, haben sich Ursula Offermann und Diana Kühndel aufgrund des großen Interesses einiger teilnehmender Studierender an dieser Thematik zu einem daran anknüpfenden interdisziplinären Forschungsprojekt entschlossen. Teilnehmende sind Studierende der LMU München, Studierende der Editionswissenschaft der Freien Universität Berlin sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Pragmatik, der Erzählforschung, der Linguistik, der interkulturellen Hermeneutik, der Kunstgeschichte und der empirischen Literaturwissenschaft, die dieses Projekt unterstützen.
Zu allen Kulturen gehören Märchen – auch in Nicht-Erzählkulturen. Sie sind Teil des nationalen Kanons. Doch werden sie meist vorgelesen und gehören daher zu den ›mündlichen Texten‹ in unserer Gesellschaft. Verschiedene Märchen wurden ediert, und teilweise wurde diese Mündlichkeit künstlich hinzugefügt bzw. entfernt. Spätestens seit dem Bekanntwerden, dass auch die Brüder Grimm die Vorlagen zu ihren Kinder- und Hausmärchen zum Teil stark verändert und sie nicht einfach nur verschriftlicht haben, wie lange im Volksmund geglaubt, aber durch die Forschungen von Heinz Rölleke widerlegt worden ist, bleibt bisher eine dezidierte Untersuchung in der Forschung aus. Diese Lücke soll und kann mit dem Projekt zwar nicht geschlossen werden, doch sollen damit weitere Forschungen angestoßen werden.
Wesentlicher Teil der Forschungsarbeiten dieses Projekts ist eine wissenschaftliche Tagung, die am 11./12. März 2016 an der FU stattfinden wird. Die etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden dabei mit ihrer jeweils eigenen Expertise die bisherigen Ergebnisse der Forscherinnen in wissenschaftlichen Diskussionen fruchtbar kritisieren und gegebenenfalls die Facetten des Themas erweitern. Mit dabei sein werden – ein Novum im wissenschaftlichen Betrieb – die professionellen Märchenerzählerinnen Kerstin Otto (Berlin) und Katharina Ritter (München), um der Mündlichkeit ‚Stimme’ zu verleihen. Ferner ist es uns gelungen, den international bekannten Grimm-Forscher Prof. Dr. Heinz.Rölleke für einen Abendvortrag mit dem Thema: „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Mündliche Traditionen in Grimmschen Märchen“ zu gewinnen. Der Termin für diesen Vortrag ist Freitag, der 11. März 2016. Hierbei handelt es sich um einen öffentlichen Abendvortrag sowohl für alle interessierten WissenschaftlerInnen als auch für Studierende bzw. interessierte Zuhörer.
Insgesamt werden alle Forschungsergebnisse und Vorträge in einer wissenschaftlichen Publikation unter dem Titel „Hörendes Lesen und Sehen von Märchen. Synergien von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ im Synchron Verlag (Heidelberg) Ende März 2017 mit der ISBN 978–3–939381–87–7 publiziert.
In dem auf den ersten Blick wohl irritierenden Titel der Projekts „Hörendes Lesen und Sehen von Märchen“ steckt die Problematik von Mündlichkeit in entweder in Buchstaben oder in Bildern materialisierten Texten. Obgleich es sich um ein Projekt mit Tagung über Märchen handelt, betrifft die im Titel aufgezeigte Problematik jegliche Art ‚mündlicher’ Texte. Der Begriff „Literatur“ wird bewusst vermieden, um einen einseitigen Blick auf Schriftlichkeit, wie er im akademischen Kontext noch immer mit „Literatur“ verbunden ist, zu vermeiden. In den Forschungsbeiträgen wird ausschließlich text-/bildbasiert – auch das in der Literaturwissenschaft noch immer ein bedauernswertes Desiderat – der lesende Blick weg vom „Resultat“, d. h. dem materialisierten Text, hin zum ‘Hör- Raum’, in dem sich die ‘Re-Präsentation’ in einer Art von lebendiger Kommunikation zwischen Erzähler, Text/Bild und Hörer ereignet, gelenkt werden. Grundlage ist dabei die Imagination einer face–to–face–Kommunikation in der Vorstellung des Lesers/Betrachters mündlicher Texte/verbildlichter Texte.
Die damit verbundene Frage der Authentizität dieser ‚mündlichen’ Texte und der Autorität derer, die sie mündlich vermittelt haben und noch immer vermitteln, stellt sich vor allem bei kanonischen Texten wie kultureller Epik, den Evangelien und anderen religiösen Buchtexten. Fast alle mittelalterlichen Texte sind mündliche Texte in dem Sinn, dass deren Schriftlichkeit auf Mündlichkeit hin gestaltet ist. Hervorzuheben sind hier die liturgischen Texte, deren ritualisierte Mündlichkeit im Ritualkontext auch unmittelbar zu ritualisierten Handlungen führt, und die Predigten, in denen die „Autorität Text“ an ein zunächst nicht-literales Publikum vermittelt worden ist.
In der Vergangenheit gab es schon Ansätze, die Dichotomie Mündlichkeit versus Schriftlichkeit aufzulösen. Hinzuweisen ist da vor allem auf empirischer kultureller Ebene auf Milman Parry und Albert B. Lord,[1] die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Strategien der bosnischen Sänger untersucht und auch ihre Aufmerksamkeit der Frage zugewandt hatten, wie die Sänger mit ihren mündlichen (von Generation zu Generation erzählten) sowie ihren schriftlichen Vorlagen im Rahmen ihrer performances umgegangen sind. Sie haben die Vorlagetexte nicht bloß erinnernd rezipiert, sondern improvisiert. Das heißt, sie haben ihre eigene Mündlichkeit für ihre eigenen Zwecke hineingewebt. Die einseitige Konzentration dieser Forscher auf die Sänger hat dennoch innovative Erkenntnisse hinsichtlich der Textstrukturen hervorgebracht, in denen sich mündliche Strategien zeigen, die es den Vortragenden erleichtert haben, die langen Gesänge in ihrem Gedächtnis zu bewahren und bei Bedarf hervorzuholen. Die erfolgreiche Übertragung ihrer Erkenntnisse (bekannt als „Oral Formulaic Theory“) durch die genannten Forscher aus den slawischen Epen heraus auf die Homerischen Epen wurde von der Disziplin der Klassischen Philologie zwar als Faktum anerkannt, jedoch bis auf einige, noch immer wenig beachtete Ausnahmen nicht in der Forschung umgesetzt. Auch die neuzeitliche empirische kulturelle Forschung konzentriert sich auf die Sänger; stellvertretend seien hier genannt Walter Heissig für die mongolische Kultur und Karl Reichl für die der Turkstaaten in Zentralasien. Letzterer allerdings hat begonnen, einen genaueren Blick auch in die Texte selbst zu werfen, als er gesehen hatte, dass in den Übersetzungen ‚Mündlichkeit’ eliminiert wird.
Die Missachtung dieser Frage in der Forschung mag damit zu tun haben, dass es in Deutschland keine Erzählkultur im eigentlichen Sinn gab und gibt. Die Schar professioneller MärchenerzählerInnen jedoch rückt zunehmend ins Bewusstsein, dass „Erzählen“ der Akt einer face–to–face–Kommunikation ist (siehe oben). Die Keimzelle einer solch genuinen Erzähl-und Sprechsituaition bildet das, was Karl Bühler 1934 in seiner „Sprachtheorie“ als „Origo“-Konzept entfaltet hat.[2] Im Mittelpunkt des Sprechereignisses steht ein ICH, von dem das sprachliche Handeln ausgeht. Dies geschieht, sinnlich wahrnehmbar, im ‘Raum HIER’ und in der ‘Zeit JETZT’. Als eine anthropologische Kategorie ist in diesem Raum das „Zeigen“ mit dem leiblichen wie dem ‘sprachlichen’ Finger verortet (s. dazu die Beiträge von Siebert und Wilde-Hecher). Ein „Das/der–da–Ist“ gewinnt nur in einem solchen sinnlichen Verweisraum in der face–to–face–Kommunikation zwischen dem ICH und dem DU seine Bedeutung.
Konrad Ehlich geht über Bühler hinaus im Sinne sowohl einer Weiterführung wie auch einer Präzisierung.[3] Bühler kennt den Begriff „Text“ nicht; er spricht von „zusammengesetztem Sprachwerk“[4], das der Leser als Betrachter von außen sieht. Damit nimmt er es aus dem Sprechereignis des sinnlichen Wahrnehmungsraums heraus. Ehlich sieht in „Text“ eine räumliche und zeitliche Versetzung der ursprünglichen Sprechsituation („zerdehnte Sprechsituation“), eine Versetzung, durch die das Gesprochene, also der Text, verselbständigt wird und der ursprüngliche Sprecher zum (stummen) Autor, der ursprüngliche Hörer zum rezipierenden Leser/Hörer – in den vorliegenden Forschungen auch zum hörenden Leser/Betrachter – des Textes/Bildes wird. Indem die Rollen von Sprecher und Hörer erhalten bleiben, bleiben beide als Kommunikationspartner erhalten. Für die Untersuchungen der Forscherinnen erweist sich Ehlichs Konzept, auch wenn im Einzelnen nicht explizit darauf verwiesen wird, von tragender Bedeutung.
Dass sich die Dichotomie Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit letztendlich nicht halten lässt und in der Forschung zudem terminologische Unklarheiten hinsichtlich dieser Begriffe herrschen, haben Koch/Oesterreicher in einem programmatischen Aufsatz[5] mit Recht hervorgehoben und die Dichotomie „phonisch“ vs. „graphisch“ zugunsten der Pole „gesprochen“ und „geschrieben“ sowie „medial“ und „konzeptionell“ aufgehoben. Die Autoren sprechen demnach von einer „Sprache der Nähe“ wie einer der „Distanz“, die in bestimmten Texten vermischt sind. Aus der so als Bedingungen von Kommunikation verstandenen Mündlichkeit und Schriftlichkeit resultieren bestimmte Versprachlichungsstrategien.
Zu allen Kulturen gehören Märchen – auch in Nicht-Erzählkulturen. Sie werden erzählt, meist aber vorgelesen und gehören daher zu den ‚mündlichen Texten’ in unserer Gesellschaft. In mehr oder weniger großem Umfang sind sie auch im kulturellen Kanon verankert – was auf jeden Fall für die Märchensammlungen der Brüder Grimm gilt. Märchen zählen auch zu den Vorlieben der jungen Forscherinnen des Projekts; daher haben sie das im vorgenannten komplexen Kontext über den Zusammenhang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von „gesprochen“ und „geschrieben“ in materialisierter Mündlichkeit etc. Gesagte am exemplum „Märchen“ zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht.
Der Weg vom Leser/Betrachter–ER[6] zum hörenden Leser/Betrachter–DU musste von den Forscherinnen in deren Imagination eines Sprechereignisses also beschritten werden, um in ihren ganz vielfältigen Untersuchungen Signale und Zeichen von Kommunikation in den Texten und Bildern nicht nur zu ent-decken, sondern vor allem nach den Gründen ihres Vorhandenseins zu fragen. Ihre jeweiligen Forschungen beruhen nicht auf langer akademischer Beschäftigung mit der vorgegebenen Thematik, sondern auf der erstmaligen Beschäftigung mit Einzeltexten oder Bildern, evoziert durch Entdeckerfreude und Forschungseifer. Die Forscherinnen haben sich dabei von der Frage leiten lassen: „Was höre ich, wenn ich einen Märchentext oder eine andere ‚mündliche’ Geschichte lese oder in einem Bild sehe.“ Diese Doppeltheit liegt dem Titel von Projekt zugrunde. Die dabei aktualisierten „kommunikativen Parameter“ (Koch/Oesterreicher a.a.O.) und Kommunikationsebenen sind u.a.: der Bezug zum (sehenden/hörenden) Rezipienten (Hölzlhammer; Kühndel); die eigene mentale Ebene hinsichtlich des individuellen Vorwissens (Hölzlhammer; Wilde-Hecher); die sprachliche Ebene, die durch Zeichen und Signale im Text auf die oben beschriebene kommunikative Situation hinlenkt (Hölzlhammer; Wilde-Hecher, Siebert); die mithilfe sprachlicher Äußerungen vom Märcheneditor (oder Erzähler) eingewebte Botschaft an den hörenden Leser/Betrachter (Hölzlhammer). Den Medienwechsel von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit zu Schriftlichkeit/Mündlichkeit (im App) analysiert Karnitscher an einem ungarischen Märchen.
Ferner werden auch Editionen ‚mündlicher’ Texte auf das Thema hin untersucht, da ‚Mündlichkeit’ wie auch ‚Schriftlichkeit’ im Rahmen einer Edition aus den Texten eliminiert oder hinzugefügt werden (Millutat). Die Transformation von Text in bewegte Bilder (Film) und damit auch die von ‚Mündlichkeit’ untersucht Kühndel. Beabsichtigt ist, dass diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen Märchen vornehmlich erforscht wurden und werden, nämlich die Motivforschung, die Psychologie, die Soziologie, um nur diese zu nennen, nicht vertreten sind.
Auffallend ist jedoch, dass sich Beiträge über die Evangelien (van Peer) und über afrikanische Epik (Jansen) finden. Während es in traditionaler Epik durchaus Märchenhaftes (Figuren, Szenen) gibt, in den Evangelien ist dies nicht der Fall. Das tertium comparationis der drei ist ihre Zugehörigkeit zum kulturellen Kanon und die im Thema von Projekt und Tagung benannte Problematik, die sich am exemplum Märchen am deutlichsten aufzeigen lässt. Es handelt sich um ein universales Phänomen. Dies soll durch die Hereinnahme der letztgenannten Beiträge deutlich gemacht werden.
[1] Parry M. (1928 ff.) The Making of Homeric Verse. The Collected Papers of Milman Parry, hg. v. A. Parry (1971), Oxford. Lord A. B. (1960) The Singer of Tales, Cambridge
[2] Bühler K. (1934/2000) Sprachtheorie, Stuttgart.
[3] Ehlich, K. (2007) Sprache und sprachliches Handeln, Band 2 passim, Berlin, New York: de Gruyter.
[4] Bühler 1934/2000:149 und passim.
[5] Koch P./Oesterreicher W. (1985) „Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“, in: Romanistisches Jahrbuch 1985: 15-33
[6] Dieses „Er“ ist im Rahmen dieser sprachwissenschaftlichen Formulierung genderunabhängig zu verstehen.